Vortrag Dr. med. Robby
Sacher
Vom
"Sich zum Sprechen bewegen lassen"
Lernen
und Entwicklung gehen mit der Möglichkeit Hand in Hand,
die neu gewonnenen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen,
sie zu schulen, auszuprobieren und zu modifizieren.
Unsere
Ausdrucksmöglichkeiten sind allesamt an eine differenzierte
Motorik gebunden und begegnen uns im Alltag beispielsweise in
Bildern, Gesten, Musik, aber auch besonders in Sprache, Schrift,
Mimik und Zeichen.
Grundzüge
der Sprachentwicklung
Säuglingsalter
Die natürliche Sprachentwicklung beginnt schon sehr zeitig
mit dem Sinn für Rhythmus und Schwingungen des Fötus
in der Gebärmutter. Er kann Töne von sich geben, auf
Geräusche reagieren, Willkürmotorik trainieren aber
auch Sinnenseindrücke mit Primitivreflexen kombinieren.
Selbst die Transmitterausschüttung im sich entwickelnden
Hirn unterliegt solchen Rhythmuseinflüssen. Der wiegende
Schritt der Mutter wird nachgeburtlich durch Tragen und Wiegen
ersetzt, die Auseinandersetzung mit sich nun ändernden
Umweltbedingungen (Schwerkraft) beginnt.
Dabei
reagiert der Säugling ganz besonders auf motorische Stimulation,
ahmt Bewegungen nach und tritt in Interaktion mit seiner Umwelt.
Beispielsweise entwickelt sich das soziale Lächeln in den
ersten Lebenswochen (um seine Umwelt freundlich zu stimmen).
Wird diese Geste nicht beantwortet, so unterbleibt das soziale
Lächeln wieder.
Abb.1 Das sich bewegende Vorbild und sein Nachahmer (bei vorgehaltenem
Foto unterbleibt allerdings diese Reaktion)
Darüber
hinaus eröffnet sich für das Kind eine ganz neue Welt
von Tönen und Geräuschen zu denen es nun unfiltrierten
Zugang hat.
Die Intonation und Tonlagen werden zunehmend übernommen,
entsprechende akustische und motorische Rückmeldungen emotional
bewertet und integriert. Wenn Säuglinge mit Tönen
spielen entwickeln sie neurale Netze und bauen Myelinscheiden
um die Nervenfasern auf, die zur Muskulatur des Kehlkopfes führen,
die Sprachentwicklung reift. So können Babys die gehörten
tonalen Schwingen mit Tönen synchronisieren um so zu lernen,
diese Laute über die motorische Aktivität des Sprachsystems
zu generieren. Außerdem erhält das Kind auch propriozeptive
(körperbezogene) Rückmeldungen unter anderem von den
Sensoren der Lippen, Zunge der Kau-Kiefermuskulatur. Wie sehr
dem Baby diese Verknüpfung Spaß machen kann sieht
man beim Schnalzen mit der Zunge. Die Sprachentwicklung ist
demnach nicht nur an das Gehör gebunden sondern auch an
propriozeptive Informationen der regional beteiligten Erfolgsorgane.
Für
diesen Zweck hat sich "Mutter Natur" einen besonderen
"Kunstgriff" einfallen lassen. Fast die Hälfte
des motorischen Kortex (Hirnrinde) ist für das Sprechen
zuständig und koordiniert das Zusammenspiel von Kehlkopf,
Zunge, Mund, Kiefer, Gesichtsmuskulatur und Augen. Das Muskelgedächtnis
für das Ausformen von Wörtern scheint im limbischen
System zu liegen, einem System, das enge Verknüpfungen
zu den Bereichen der Denksteuerung besitzt.
Kleinkindalter
Mit der Unterscheidung von Rhythmus und Tönen werden nun
erste Wörter gebildet, mit Gegenständen oder Tätigkeiten
und Funktionen verknüpft, verschiedene Dialekte und Akzente
unterschieden sowie im Sprachgedächtnis entsprechend abgelegt.
Für diese Fähigkeiten besteht ein Zeitfenster, das
sich bis etwa zum 16. Lebensjahr zunehmend schließt. Auch
ein Grund, warum Kinder eine Fremdsprache besser lernen als
Erwachsene, obwohl letztere eigentlich viel bessere Lernstrategien
(auswendig lernen) besitzen.
Kleinkinder
entwickeln im Rahmen des Spracherwerbs ein ausgeprägtes
Verständnis für die Funktion und Kategorisierung von
Gegenständen sowie den Bezug zu Menschen.
Einerseits sind Bezugspersonen ein wichtiges Vorbild für
das Sprachmodell sowie für Bewegung und können somit
den Ausdruck des Gelernten fördern (Wortspiele, Reime,
Rhythmusspiele
.). Andererseits dient die Erläuterung
einer Funktion, eines Gegenstandes oder einer Tätigkeit
der Erweiterung des Wissens. Daher ist es beispielsweise wichtig,
dass das Kind nicht nur die Bezeichnung der Mütze versteht
sondern weiß, dass man so nicht am Kopf friert.
Durch die Verknüpfung von Bezeichnung und Funktion zu einem
Objekt oder einer Tätigkeit ist das Kind in der Lage eine
tiefere Beziehung aufzubauen.
Eltern sollten sich bewusst sein, dass das Verhalten ihrer Schützlinge
stärker durch das geprägt wird was sie sehen, fühlen,
berühren und riechen bzw. schmecken. Mündliche Anweisen
können im Alter von vier Jahren zwar im Allgemeinen verstanden
werden, Worte sind dann aber meist "Schall und Rauch".
So ist die physische Stimulation meist so stark, dass sie sich
über Verbote schnell hinwegsetzen.
Die heiße Herdplatte ist dann so interessant erforscht
zu werden
. .
Aber
auch gegensätzliche "Funktionen" werden verknüpft
und gemeinsam abgelegt. So gehört klein zu groß,
hoch zu niedrig oder kalt zu warm. Kindergartenkinder üben
dieses Zusammenspiel nicht selten, "ich bin nicht schmutzig,
ich bin sauber
.".
Vorschul
- und Schulkindalter
Mit der Fähigkeit zum Schlussfolgern (ca.4.Lbj) tritt die
Sprachentwicklung in eine neue Qualität. So können
Kinder den motorischen Verlockungen zwar widerstehen und Verbote
einhalten, allerdings bedarf es oft "endloser" Diskussionen,
die wiederum wichtig für die Entwicklung sind und zunehmend
auch wirksamer werden (aus Sicht der Eltern).
Mami,
Mami
. Mami, warum,
. warum,
wieso
Mit Abschluss des Grunderwerbs der Sprache schließt sich
bis etwa zum 7. Lebensjahr die Verarbeitung von Erlebtem im
Rahmen der äußeren Sprache an.
Kinder können ohne "Punkt und Komma" reden, denken
laut nach, formulieren Schlussfolgerungen und suchen Bestätigung.
Selbstgespräche sind an der Tagesordnung und Wortgefechte
üben den Umgang mit der Sprache. Das Ergründen von
dem Was und dem Wie oder Warum fördert Denken und Sprache
gleichermaßen und kanalisiert den Bewusstseinsstrom. Da
Kinder in dieser Phase laut denken funktioniert beispielsweise
das stille Lesen in den ersten Klassen der Grundschule nicht
(und auch meist noch nicht in der 2. - stilles Lesen ist an
den Spracherwerb der inneren Sprache gebunden).
Kinder dieser Entwicklungsstufe mögen es wenn laut vorgelesen
wird.
Schulkindalter
Die Entwicklung der inneren Sprache versetzt die nun schon Schulkinder
(ab ca. 8. Lebensjahr) in die Lage, Denkprozesse mit Bildern,
Gesten, Begriffen und Lauten zu unterlegen, aber auch Wörter
oder Tätigkeiten zu analysieren. So beginnen einige Kinder
"um die Ecke" zu denken um herauszufinden ob sich
aus einer situativen Entwicklung Vor - oder Nachteile ergeben.
Das hat unmittelbaren Einfluss auf das Sozialverhalten.
Hierzu gehört die Entwicklung von Vermeidungsstrategien
wie Kaspern oder Verweigern um sich im Gruppenverband nicht
zu blamieren.
Bewegungsmangel, assoziierte Reaktionen bei Bewegung und anderes
mehr (s.u.) behindern die Entwicklung der inneren Sprache sowie
das formale Denken.
Interessanter
Weise entstand die innere Sprache in einem Hirnareal, das die
verfeinerten Bewegungen der Hand steuert. Mit dem Gebrauch von
Werkzeug sowie der Fähigkeit Problem lösendes Denken
zu entwickeln differenzierte sich dieses Zentrum für feinmotorische
Koordination, Mustererkennung und Informationsverarbeitung in
Verbindung mit Planen und Denken.
Natürlich
ist der Spracherwerb ganz eng an die Intaktheit des Gehörs
gebunden. Die Entwicklung der Gebärdensprache bei hörgeschädigten
Kindern unterstützt den Denkprozess als Alternative zur
Fähigkeit des Sprechens. Aber auch bei gesunden Kindern
bietet die moderne Zivilisation nicht immer optimale Voraussetzungen.
So wird beispielsweise im Fernsehen zu schnell gesprochen um
daraus ideale Sprachentwicklungsvoraussetzungen abzuleiten.
Aber auch wiederkehrende Infekte der oberen Luftwege, Mittelohrentzündungen
u.a.m. können die Hörfähigkeit beeinträchtigen.
Die
zunehmende Verarmung unserer Sprache macht sich im Verlust der
Kommunikationsfähigkeit bei Kindern (und Erwachsenen) bemerkbar.
So wird selten noch in ganzen Sätzen gesprochen was zu
unvollständigen Sprach- und Denkmustern führt. Guckst
Du
eh Alter kommst Du
oder um mit Tom Gerhard
zu sprechen
ja normal eh
. Das Sprechen in ganzen
Sätzen mit ausformulierten Gedanken setzt jedoch ein intensives
Sprachtraining voraus, das nur durch ernsthafte Gespräche
und unter Einbeziehung aller kommunikativen Fähigkeiten
entsteht.
Andererseits entwickelt sich dadurch natürlich auch ein
Abstraktionsvermögen. Dies erlaubt uns mit- bzw. vorauszudenken
und Fehler zwar zu erkennen, diese jedoch zu kompensieren.
Gmäeß
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wir enrknen Wötrer am Bstaubenafuabau und knnöen astrabieern.
Ehct ksras.
Sicher
auch ein Problem für Kinder mit gutem Abstraktionsvermögen,
wobei Lesen gut klappt (Erfassen der Wörter), allerdings
der Schriftspracherwerb leidet.
Sprachentwicklung - Motorik und Kopfgelenksblockierungen
Das überzufällige Zusammengehen von Sprachentwicklungsverzögerungen
und motorischen Defiziten ist seit Jahrzehnten bekannt. Eine
Ungeschicklichkeit wird sich so nicht nur beim Umsetzen von
Bewegung zeigen sondern auch bezüglich der Mundmotorik.
Auf den Einfluss von Rhythmik der Sprache und der Bewegung (Handklatschspiele,
vor - zurück- zur Seite - ran
.) wurde schon kurz
eingegangen.
Ende
der 80er Jahre belegten darüber hinaus erste Studien (HNO-Klinik)
den Zusammenhang von funktionellen Störungen des Bewegungsapparates
(insbesondere Kopfgelenksblockierungen) und verschiedenen Formen
der Sprachentwicklungsverzögerung.
Da der obere Wirbelsäulenpol auch für Wahrnehmung
aus dem Bewegungsapparat (Propriozeption) und hier besonders
für Gleichgewicht, Kopf- Körper-Stellung im Raum,
Blickfolge und anderem mehr verantwortlich ist, resultiert bei
gestörter Funktion ein Informationsdefizit mit fehlerhafter
Steuerung.
Die daraus folgende Gleichgewichtsunsicherheit lässt sich
bei Kleinkindern oftmals schon daran erkennen, dass sie nicht
gern oder nur klammernd auf den Schultern sitzen. Sie sind sehr
vorsichtig, klettern nicht gern, stolpern häufig oder sind
ungeschickt, verausgaben sich (aber mit Löwenherz) und
haben Probleme mit der Kraftdosierung.
KISS
und KIDD
Der Einfluss von frühkindlichen Kopfgelenksblockierungen
auf die orofaciale Motorik (Kau - Kieferapparat) kann sich schon
frühzeitig als Saug- und Trinkstörung manifestieren.
Nicht selten sabbern die Säuglinge vermehrt und weisen
außerdem Auffälligkeiten in der motorischen Entwicklung
auf. Entweder überstrecken sich die Kinder und mögen
die Bauchlage nicht (KISS II). Dem stehen Babys mit "C-förmiger"
Haltung gegenüber, sie schauen meist nur nach links oder
rechts und entwickeln neben motorischen Asymmetrien eine seitlich
gelegene Hinterhauptabplattung (KISS I). Liegt solchen Auffälligkeiten
eine Kopfgelenksblockierung zu Grunde kann eine manualmedizinische
Behandlung helfen. In der Medizin hat sich dafür der Begriff
KISS Syndrom etabliert. KISS steht für Kopfgelenks - Induzierte
SymmetrieStörung.
Abb.2 KISS I mit Kopfschiefhaltung Abb.3 Einseitige Hinterhauptabplattung
Gesichtsasymmetrie und motorischen Asymmetrien rechts bei KISS-I
Abb.4 KISS II mit Überstreckung Abb.5 KISS II mit mittiger
Hinterhauptabplattung
Unbehandelt
ergeben sich im Kleinkind- und Schulkindalter vermehrt Haltungsauffälligkeiten,
eine Ungeschicklichkeit, Kopfschmerzen sowie Teilleistungsstörungen
aber auch Sprachentwicklungsverzögerungen. Für diese
Altersgruppe wurde der Begriff KIDD - Kopfgelenk - Induzierte
Dysgnosie und Dyspraxie gewählt.
Eine flankierende manualmedizinische Behandlung kann dann die
logopädischen, ergotherapeutischen, krankengymnastischen
und mototherapeutischen Bemühungen unterstützen.
Abb.6 Fehlhaltung bei KIDD
Abb.7 Teilleistungsstörung bei einem Abb.8
. und
6 Wochen nach Behandlung
6-jährigen Jungen vor Behandlung
Die
Diagnostik und Therapie von Sprachentwicklungsverzögerungen
erfordert demnach eine interdisziplinäre Zusammenarbeit
verschiedener ärztlicher und nichtärztlicher Fachrichtungen
sowie die Einbeziehung von Familie und pädagogischem Umfeld.
Literatur:
Biedermann,
H. KISS - Kinder. Enke-Verlag 1996
Falkenau, HA. Sprachentwicklungsverzögerung durch Kopfgelenksblockierungen.
ManMed 1989 27:8-10
Gschwend, G. Neurophysiologische Grundlagen der Hirnleistungsstörungen.
Karger 2000
Hannaford, C. Bewegung das Tor zum Lernen. VAK Verlag, 1996
Sacher, R. KISS KIDDs. VML, 2004
Anschrift
des Autors:
Dr.
Robby Sacher
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44137 Dortmund
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